Sonntag, Oktober 22, 2006

Ich verstehe Japanisch!

Auf dem Rückweg von Amanohashidate mußte ich wieder über Kyōto fahren. Um kurz vor acht stand ich dann auf dem Bahnhof und wartete auf den Schnellzug (Shinkaisoku). Mit der Bummelbahn wollte ich nicht fahren, das hätte doppelt so lange gedauert.

Das schöne an den japanischen Bahnhöfen (zumindest den großen) ist, daß auf den Bahnsteigen Markierungen an den Stellen angebracht sind, an denen sich die Türen des Zuges befinden, wenn er denn da ist. Manchmal gibt es unterschiedliche Markierungen, und die Anzeigentafel zeigt dann an, welche Markierungen für welchen Zug gelten. Und das schöne an den japanischen Zügen ist, daß sie auch tatsächlich vor diesen Markierungen halten.

Ich stellte mich also an der Markierung für den Shinkaisoku auf. Ich war die zweite in der Schlange, vor mir stand nur noch ein junger Mann. Direkt hinter mir turtelte ein verliebtes Pärchen herum, und hinter dem Pärchen wartete eine ältere Dame.

Während ich so da stand und auf den Zug wartete, bekam ich mit, wie die ältere Dame das Pärchen danach fragte, ob das auch wirklich der Zug nach Ōsaka sei. Die Anzeigentafel sagte in ihrer Version in lateinischer Schrift, eine Stadt namens Kamigori sei das Ziel des Zuges. Hatte ich auch noch nie gehört, aber wenn die Tafel auf Kanji umschaltete, konnte ich die Zeichen für Himeji erkennen. Und wenn der Zug nach Himeji fährt, dann hält er auch in Ōsaka. Außerdem war das der Bahnsteig für die Züge nach Ōsaka. Ich war mir also zu 99% sicher, auf den richtigen Zug zu warten.

Plötzlich bemerkte ich hinter mir eine Bewegung und sah, wie das Pärchen einfach verschwand. Die ältere Dame sah den beiden erst verblüfft hinterher und drehte den Kopf dann wieder nach vorne. Sie sah mich direkt an. Sah mir direkt in meine großen, blauen Augen in meinem weißen Gesicht (der Bezeichnung "Bleichgesicht" aus den alten Indianerromanen kann ich eine gewisse Berechtigung nicht absprechen) und - textete mich zu. Das eigentlich Erstaunliche daran war aber, daß ich keinerlei Probleme hatte, sie zu verstehen. Natürlich habe ich nicht jedes Wort verstanden, nur die Schlüsselwörter, aber das hat ausgereicht. Den Rest konnte ich mir mühelos dazu denken (im Text kursiv gesetzt).

"Das waren Taiwaner! Ich wollte doch nur wissen, ob das der Zug nach
Ōsaka ist, aber die beiden sind Taiwaner und haben mich nicht verstanden! Taiwaner! Und gehen einfach so weg! Woher soll ich das denn wissen, daß das Taiwaner und nicht Japaner sind! Ich kann keinen Unterschied zwischen Japanern und Taiwanern sehen! Also habe ich sie gefragt, ob das der richtige Zug ist, aber sie haben mich nicht verstanden, weil das Taiwaner sind!..."

Usw. usf. Und die ganze Zeit über sah sie mir starr in die Augen. Ich begann mir schon Sorgen zu machen. Vielleicht hatte die gute Frau wirklich Probleme mit ihrer Sehkraft? Mir blieb nichts anderes übrig, als mein Grinsen zu unterdrücken höflich zu lächeln und ab und an zu nicken. Der junge Mann hatte sich ebenfalls längst schon umgedreht und grinste breit von einem Ohr zum anderen. Irgendwann mußte sie aber mal Luft holen, und da sagte ich, daß ich ebenfalls nach
Ōsaka führe und daß das schon der richtige Zug sei.

Verblüfft hielt die Dame inne. Dann fragte sie den jungen Mann: "Entschuldigung, ist das hier der Zug nach
Ōsaka?" (Hallo?!) Dieser bestätigte und wandte sich dann mir zu: "Sie sprechen aber wirklich gut Japanisch." "Oh nein, ich spreche nicht sehr gut Japanisch."

Die Dame legte wieder los: "Ich hatte eben schon die beiden jungen Leute gefragt, aber das waren Taiwaner und haben mich gar nicht verstanden. Die sind dann einfach weggegangen, weil sie mich nicht verstanden haben. Aber woher soll ich das wissen, daß das Taiwaner sind und nicht Japaner? Können Sie den Unterschied zwischen Taiwanern und Japanern sehen? Ich kann den Unterschied nicht sehen, also habe ich sie gefragt, aber sie haben mich nicht verstanden. Bei dieser jungen Dame hier" - sie machte eine kurze Handbewegung in meine Richtung - "sehe ich doch wenigstens, daß sie Amerikanerin ist, aber -"

In diesem Moment hielt ich es für angebracht, die gute Frau in ihrem Redeschwall zu unterbrechen und über ihren erneuten Irrtum aufzuklären. Aber ich konnte beruhigt zur Kenntnis nehmen, daß mit ihren Augen doch alles in Ordnung war.

Ich habe mich königlich amüsiert.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Sind Ausländer überwiegend in Japan US-Amerikaner? Oder weswegen wird ein Ausländer automatisch mit einem Amerikaner gleichgesetzt?

Andreas hat gesagt…

*g* Sehr schön ... musste die ganze Zeit grinsen :-)

Ute hat gesagt…

@ Mirco: ob die meisten Ausländer wirklich Amerikaner sind - keine Ahnung. Ich werde jedenfalls oft gefragt, ob ich Amerikanerin sei. Als andere Altrenative wird dann Kanada genannt. Hat vielleicht mit den amerikanischen Militärbasen zu tun und/oder damit, daß Europa noch weiter weg liegt.

@ Andreas: ich auch!